Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) hat Anfang dieses Jahres ein Ende April 2021 abgeschlossenes Konsultationsverfahren betreffend Leitlinien für die Angemessenheitsprüfungen nach MiFID II (nachfolgend «Leitlinien») eröffnet. Die Leitlinien sollen die «Suitability»-Leitlinien der ESMA ergänzen und werden voraussichtlich im dritten Quartal 2021 final publiziert.
Auch das FIDLEG sieht eine Angemessenheitsprüfung vor. Die Grundsätze in den Leitlinien könnten somit über kurz oder lang auch die entsprechenden Anforderungen in der Schweiz beeinflussen.
Wann muss eine Angemessenheitsprüfung durchgeführt werden?
Execution-Only-Geschäfte mit komplexen Finanzinstrumenten unter MiFID II
MiFID II verlangt von Finanzdienstleistern die Durchführung einer Angemessenheitsprüfung bei Execution-Only-Geschäften mit komplexen Finanzinstrumenten. Als komplexe Finanzinstrumente gelten dabei insbesondere Derivate (z.B. Optionen, Terminkontrakte, Swaps), finanzielle Differenzgeschäfte, Wandelanleihen oder Optionsscheine.
Transaktionsbezogene Anlageberatung unter FIDLEG
Das FIDLEG sieht eine Angemessenheitsprüfung nur bei der Anlageberatung für einzelne Transaktionen, bei welcher nicht das gesamte Kundenportfolio berücksichtigt wird, vor. Diese (Unter-)Art der Finanzdienstleistung ist der MiFID II nicht bekannt.
Was ist eine Angemessenheitsprüfung?
Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung sind die Kenntnisse und Erfahrungen des Kunden im Anlagebereich in Bezug auf diejenigen Finanzinstrumente zu erheben, für welche der Kunde Geschäfte plant bzw. für welche Empfehlungen abgegeben werden sollen. Ein Finanzinstrument gilt nur dann als angemessen, wenn der Kunde über ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf das jeweilige Finanzinstrument verfügt, um die damit verbundenen Risiken zu verstehen.
Im Entwurf für die erwähnten ESMA-Leitlinien wird unter anderem Stellung genommen zur Art und Weise, wie die Informationen über die Kenntnisse und Erfahrungen vom Kunden eingeholt werden sollen. Demnach sind die verwendeten Fragebögen derart auszugestalten, dass sie Aufschluss über das Verständnis des Kunden betreffend das Verhältnis zwischen Risiko und Ertrag der jeweiligen Geschäfte geben. Insbesondere sind zu weit gefasste binäre Fragen (Ja/Nein) und/oder ein weit gefasster Tick-the-Box-Approach (Liste mit Finanzinstrumenten mit Angabe, ob der Kunde Kenntnisse und Erfahrungen hat) zu vermeiden. Vielmehr sollen dem Kunden Fragen gestellt werden, welche Aufschluss geben über die reellen Kenntnisse des Kunden (durch die Verwendung von Multiple-Choice-Fragen betreffend Charakteristika und Risiken) bzw. die tatsächliche Erfahrung des Kunden (z.B. durch das Erfragen von Aktualität und Häufigkeit konkreter Anlageerfahrungen).
Auswirkungen auf die Schweiz
Die in der Schweizer Praxis oftmals verwendeten Formulare, in welchen mittels einer Auflistung von Assetklassen durch entsprechendes Ankreuzen erhoben wird, ob Kenntnisse und/oder Erfahrungen vorhanden sind, genügen den durch die Leitlinien vorgesehenen Anforderungen and die Angemessenheitsprüfung wohl nicht. Beabsichtigt ein Finanzdienstleister im Rahmen von Execution-Only-Dienstleistungen für EU-Kunden MiFID II vollumfänglich einzuhalten, ist ein Review der entsprechenden Dokumente angezeigt.
Ob im Hinblick auf eine mit der EU äquivalente Schweizer Regulierung zudem die realistische Möglichkeit besteht, dass die MiFID II-Anforderungen an die Durchführung von Angemessenheitsprüfungen mittelfristig auch Auswirkungen auf die entsprechenden Anforderungen im Zusammenhang mit der transaktionsbezogenen Anlageberatung unter FIDLEG haben werden, muss offen bleiben.
Eine Verschärfung in der Erhebungsart der kundenseitigen Kenntnisse und Erfahrungen in Kombination mit dem Fehlen eines expliziten Hinweises in der MiFID II, wonach unzureichende Kenntnisse und Erfahrungen durch Aufklärungen/Ausbildungen «geheilt» werden können, lässt Anlegern ohne Kenntnisse und Erfahrungen keinen Raum, Kenntnisse zu erlangen und Erfahrungen zu sammeln, da ihnen der Zugang zu komplexen Finanzanlagen im Execution-Only-Bereich faktisch verwehrt bleibt.
Das FIDLEG hingegen zeichnet sich durch seinen liberaleren Ansatz aus und vertraut vielmehr auf das Konzept des «wohlinformierten Anlegers». Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht als unmöglich, dass die Schweizer Regulierung einen grosszügigeren Ansatz für die Erhebung der Kenntnisse und Erfahrungen verfolgen wird.